Niklas Ehrentreich - Eine Kerze, ein Kaffee
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Sie sah müde aus. Eine Anstrengung lag um ihre Augen, ein Kämpfen um die Wundwinkel, als sie sich daran machte, durch die Regenmäntel und Schirme schlüpfte, die den Platz im Herzen der Stadt in ein Meer aus nassem Plastik verwandelten. Sie bedeutete mir, zu folgen. Ich versuchte, Schritt zu halten, und wunderte mich, wie schwer es mir fiel. Diese schmale, erschöpfte Gestalt bewegte sich mühelos und flink. Wo ich gegen Passanten rempelte, kreuzende Eilige umtanzen musste, schien sie die Wogen zu teilen, wo sie ging, zielstrebig und erhaben.
„Ganz sicher, dass wir richtig sind?“, rief ich atemlos, und tat einen Schritt zur Seite, um einem vorbeihuschenden Anzug mit breiten, nassen Schultern auszuweichen.
Sie antwortete nicht, aber ich meinte, ein leichtes Nicken zu erkennen, ein zartes Rucken der blonden Haare unter dem burgunderroten Schirm. Ich folgte dem aufgespannten Stoff, wenn ich sie selbst im Gewimmel kurz aus den Augen verlor, und kurz danach traten wir am anderen Ende des Carrés ans Ufer. „Ganz sicher“, sagte sie und lächelte. Ich verstand sofort, warum eine ganze Nation ihr zu Füßen gelegen hatte. Wie es geschehen konnte, dass Euphorie und Hass sich gleichermaßen an ihr entluden. Es schien mir geradezu unmöglich, nicht mit den schrillsten Tönen der emotionalen Klaviatur auf so ein Lächeln zu reagieren.
Es brannte mir unter den Nägeln, sie danach zu fragen, was sie von all dem hielt. Von der Flucht ihres Sohnes, seinen Ausführungen und Geständnissen. Von der Frau, die er liebte, vom Bruder, mit dem er im Streit lag. Von ihm. Seinem Aufstieg. Ich ließ es sein, wir hatten Wichtigeres zu tun.
„Der beste türkische Kaffee in London“, sagte sie, „ist nicht mehr weit, mein Lieber.“ Wieder setzte sie sich in Bewegung. Nun, da das Gedränge hinter uns lag und nur noch ein schmales Rinnsal aus Menschen unsere Knöchel umspülte, kam es mir vor, als sei sie unsicherer. Sie hielt den Schirm eng über dem Scheitel und die Streben ragten mit dem schützenden Nylon so in ihr Gesicht hinab, dass kaum mehr etwas davon zu sehen war. Trotzdem stockten manche, die uns entgegenkamen. Wer nicht in einen Bildschirm vertieft oder ganz auf die eigenen Fußspitzen konzentriert war, konnte kaum anders, als sich mit dem Blick in ihr zu verheddern. Ein Wispern und Raunen hin und wieder, das ihr kaum entgehen konnte, dem sie aber die gleiche Aufmerksamkeit schenkte, die dem stets präsenten Ticken der Wanduhr im eigenen Wohnzimmer gilt.
„Was macht ihn denn so gut?“, fragte ich, alle anderen Fragen sorgsam auf ein hohes Regal in meinem Kopf packend, wo sie mir nicht aus Versehen doch wieder in die Finger geraten würden. „Die Schlichtheit“, sagte sie, „du wirst sehen.“
An einer Kreuzung, die mit einem Handyladen, einer Apotheke, einem kleinen Lebensmittelgeschäft und einer Buchhandlung den Mikrokosmos für einen ganzen Alltag bot, wandte sie sich nach links. Wäre ich ihr nicht dicht auf den Fersen gewesen, ich hätte den Eingang zum Café leicht verpassen können, schmal und unscheinbar in die Wand gefügt. Kein Schild hing über der Türe, keine Tafel mit Angeboten und Spezialitäten stand davor. Sobald sich der Raum vor mir öffnete, kam mir der Geruch entgegen, ein fast körperlich greifbarer Gastgeber. Die Einrichtung war schlicht. Runde Holztische, niedrige, gepolsterte Stühle. Teppiche, die Pfade überall da auswiesen, wo seit vielen Jahren Kundschaft und Personal durch das offenbar unveränderliche Arrangement schritten. Nur die Lampen, die über den Sitzgruppen hingen, machten einen Eindruck von besonderer Sorge – allesamt verschieden, mit metallenen Plättchen, Stäben und Kettchen geschmückt, warfen sie ein warmes Licht in die sonst schummerige Stube.
Sie ließ sich nieder, in einer fließenden Bewegung. Den Schirm hatte sie an der Türe stehenlassen. „Setz dich. Schau, es kommt auf die Bohne an. Auf die Sorgfalt. Zu viele der Cafés setzen auf teuer aussehende Cezve, Kannen, in denen sie servieren, oder auf Theater drumherum. Hier wissen sie einfach, was zu tun ist. Eine gute Mühle, sortenreiner Kaffee, weiches Wasser. Und nicht zu heiß ziehen lassen. Voilà.“
Das letzte Wort ging ihr überraschen holprig von den Lippen. Unsicher wie der Griff eines Rechtshänders, der die schwächere Linke benutzt. Ich setzte mich und kam mir vor wie ein ungelenker Golem. Mit einem schnellen Blick und wenigen Worten bestellte sie. Die anderen Gäste im Lokal würdigten uns keines Blickes, als wäre nicht eben sie zur Türe hereingetreten. Als wäre unser Tisch weiter unbesetzt oder als seien zwei beturnschuhte amerikanische Touristen hereingeschneit, denen man am besten mit Nichtzurkenntnisnahme begegnet – einerseits, um ihnen ein privates und authentisches Erlebnis zu ermöglichen, vor allem aber, weil sonst jederzeit ein Gespräch drohte, laut und zudringlich.
Zwei Tassen und eine schlichte Kanne wurden vor uns abgestellt, auf runden Keramikplättchen mit einem blau-weißen floralen Muster. Dick und schwarz floss der Mokka in die Becher, der feinkörnige Satz wirbelte darin. Das bisher schon intensive Aroma verstärkte sich, saß mit uns am Tisch und wartete genauso gespannt wie ich darauf, ob sie es mir irgendwann erklären würde. Wie sie hier sein konnte, sechsundzwanzig Jahre später. Keinen Tag älter als auf diesen letzten Bildern, nur anders gekleidet, moderner, schöner.
Wir nippten an den Tassen. Bitter und schwer legte sich der Geschmack überall in meinen Mund und machte es sich seufzend bequem. Sie hatte die Augen geschlossen und nahm das Getränk mit allen Sinnen in sich auf: Die Wärme zwischen den Händen, den intensiven Geruch mit der Nase. Die Wucht der Flüssigkeit selbst in ihrem Mund. Ich bemerkte, dass ich sie anstarrte, und sie bemerkte es auch. Sie erwiderte den Blick und ich suchte rasch Halt in den Resten in meiner Tasse.
„Es hätte schön werden können, oder?“, fragte sie. „Sie hätten mich doch irgendwann in Ruhe gelassen, ein wenig zumindest? Mit dem Alter, mit den Enkeln, es gibt doch Spannenderes.“
Ich bemerkte, wie ich leicht die Schultern hob. Was wusste ich schon? Von ihr, davon, wie es war, wie es hätte werden können?
„Vielleicht“, sagte ich lahm.
„Du fragst dich das auch. Sonst wären wir nicht hier.“
Der Pappbecher in meiner Hand war nass vom Regen. Die Menschen hasteten umher, eine Turmglocke schlug. Nicht die Turmglocke, aber immerhin. Ich starrte mit festgefrorenem Blick auf das Plakat, das am Boden lag, achtlos zertreten und vollkommen durchgeweicht. Jemand hatte es gebastelt, für seinen großen Tag, hatte ein Foto von ihr darauf geklebt, das Datum ihres Todes. Eine Worte, die ich nicht mehr lesen konnte, zu zerquollen war die Pappe.
Vielleicht hätten sie sie irgendwann und Ruhe gelassen. Vermutlich nicht.
Zu sehr liebten sie es, die Frau zu vergöttern, die ihre Prinzessin gewesen war, die Frau zu hassen, die geflohen war vor dem Leben, in das sie sich so gerne träumten.
Ich nahm einen Schluck Starbucks Cappuccino.
Er schmeckte fad.
Schreibimpuls:
Verbringe einen Tag im regnerischen London
mit Prinzessin Diana. Euch verbindet die Liebe zu türkischem Kaffee.